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Der Kinobesuch der alten Dame

Ich war – zu meiner Zeit – ein großer Filmstar gewesen. Wie mich die Männer angesehen hatten, voller Ehrfurcht und Lust und die Frauen! Solcher Neid. Jede wollte so sein wie ich, so jung, so attraktiv, so erfolgreich. Wenn ich mit meinen vollen Lippen und den kurzen Locken über die Kinoleinwand tanzte, waren die Kritiker begeistert und wenn ich über den roten Teppich zur Premiere schritt, gab es ein Feuerwerk an Blitzlichtern. Jeder wollte das beste Foto von mir schießen.

Fast sechzig Jahre später und kaum einer kannte meinen Namen mehr. Sechzig Jahre und ich hatte trotzdem kaum einen Satz vergessen. Ich konnte in meine Rollen schlüpfen als wäre ich noch zwanzig und die Männer lägen mir zu Füßen.

Sechzig Jahre nach meinem großen Erfolg: „Rote Lippen, Sonnenschein und das Meer“ wurde er wieder gezeigt im Programmkino der Stadt. Wie sehr musste ich meine Pflegerin anflehen, um hingehen zu dürfen. Ein schönes Kleid musste her! Das war meine Feier! Wie könnten die mein Jubiläum ohne mich feiern?

Den roten Teppich, den hatten sie vergessen und ich empfand es als große Schande, dass sie mich nicht alleine hatten gehen lassen. Meine Pflegerin ließ mich nicht einen Moment aus den Augen, als ich durch den Eingang in den Kinosaal schritt. Neben mich ließ sie sich nieder und beäugte mich. Nicht eine Sekunde sah sie den Film. Dabei war es ein grandioser Film. Ich bewunderte mich selbst, wie ich mich am Abend der Premiere bewundert hatte. Mein schillerndes Kleid, meine kurzen Locken. Und ich fühlte wie mein Busen straff war und mein Hintern knackig. Mein Haupt hob sich und meine Augen begannen zu funkeln wie die auf der Leinwand.

Kaum begann der Abspann, stand ich auf. „Wo wollen Sie denn hin?“, fragte die Frau, die den Platz neben mir im Kino innehatte. „Meine Liebe, die Journalisten warten doch auf mich“, beteuerte ich und drängte mich flinker hinaus als je zuvor. Mein olivfarbenes Kleid umflatterte meine Beine, doch ich kam nicht umhin mich zu fragen, warum ich flache, schwere und globige Schuhe trug. Ansonsten hatte ich doch immer niedliche Sandalen bei meinen Premieren getragen. Ich musste ein Wort mit meiner Stylistin sprechen. So konnte ich nicht auf den Titelblättern der Boulevardpresse landen!

Vor dem Kino war es dunkel. Keine Blitzlichter empfingen mich, keine Fans kreischten mir entgegen. Niemand wollte ein Autogramm. Ich war verwirrt. So etwas hatte es noch nie gegeben und dieser Film! „Rote Lippen, Sonnenschein und das Meer“ hätten mein Durchbruch sein sollen. Und wie gelungen er doch war! Ach, wie wunderbar hatte ich das brave Mädchen gespielt, das am Strand den verheirateten Mann verführte.

Ich bog in eine Gasse ein. „Frau Silber! Frau Silber“, schrie mir jemand hinterher, aber es klang nicht begeistert oder euphorisch, sondern bloß verärgert. Ach, ich hatte keine Zeit für Interviews. Ich musste zuerst meinen Geliebten finden. Warum war er bloß nicht zur Premiere erschienen? Rasch bog ich in die nächste Seitenstraße ein. Nichts kam mir bekannt vor. Warum hatte auch kein Fahrer vor dem Kino auf mich gewartet. Ich fluchte über meine junge Assistentin, die auch nichts auf die Reihe bekam. Und meine Stylistin hatte ich genauso wenig wie meinen geliebten Robert gefunden.

Ein weiteres Mal bog ich ein, nur um zu erkennen, dass ich im Kreis gelaufen war. Die Journalistin – jetzt erkannte ich sie wieder – es war die Frau, die im Kino neben mir gesessen hatte – sie lief auf mich zu. „Gott sei Dank, sind Sie wieder hier. Sie dürfen doch nicht alleine nach Hause gehen, aber so schnell waren Sie weg. Ich konnte gar nicht hinterher...“, plapperte sie, „Ihr Mann ist auch gekommen! Er wird Sie zurück ins Heim begleiten. Sogar Blumen hat er mitgebracht!“

Mein Mann? Diese Frau war wohl völlig durcheinander. So jung wie ich war, konnte ich doch noch nicht verheiratet sein. Die Geschichte mit Robert war doch nichts Ernstes.

Aber da stand tatsächlich jemand neben ihr mit einem Strauß Rosen in der Hand. Ein alter Mann mit runzeliger Haut und einer dicken Brille. Am Kopf hatte er nur noch dünnes, weißes Haar und er ging gebückt mit einem Stock in der Hand. Was war das nun wieder für ein dummer Scherz! Ich war gerade einmal zwanzig und diese Frau dachte allen ernstes, ich wäre mit einem alten Sack verheiratet? Ich begann darauf loszuschimpfen, was sie sich denn einbildete und dem alten Mann kamen die Tränen. „Nicht schon wieder, Josephine, Täubchen, sieh dich doch an...“, sagte er und ließ beinahe den Strauß Rosen fallen.

Ich sah ihn an. Und ich sah, dass er doch mehr Haare hatte als gedacht. Sein Kopf war bedeckt von schwarz gegeltem Haar. Seine Augen leuchteten voller Jugend. Keine Falten bedeckten mehr seine Haut. Sein Anzug sah seltsam aus, aber frisch gebügelt und schön. Sein Stock war der eines jugendlichen Studenten und die Rosen! „Ach, Robert, hast du die Rosen für mich gebracht?“, fragte ich ihn. Ich wusste doch, dass mein Geliebter meine Premiere nicht versäumen würde. Da lachte auch der Mann mit den Rosen in der Hand und nahm mich in den Arm.

„Nicht hier, Robert, die Journalisten!“, sagte ich und versuchte mich abzuwenden, auch wenn es mir widerstrebte. Jetzt wurde es wirklich Zeit, dass mein Fahrer kam und uns in ein Hotelzimmer brachte, wo uns niemand sah. Meine männlichen Fans wollten mich gar nicht in den Armen eines anderen Mannes sehen. Das war schlecht für die Verkaufszahlen meiner Filme! Zumindest sagte das meine Assistentin immer und immer wieder.

„Josephine, wir sind doch ganz alleine“, sagte Robert. Und da küsste ich ihn in jugendlichem Übermut. Ach, ich liebte diesen Mann, sollte die Presse schreiben, was sie wollte!

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Die Pflegerin konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Immer wieder vergaß ihre Patientin, wer sie war – als wären die letzten sechzig Jahre nie geschehen. Sie war beeindruckt wie sehr die alte Frau, der jungen Schauspielerin in den Dokumentationen und Filmen glich. Ihr Blick war derselbe und selbst ihr Gang! Trotz der künstlichen Hüfte schritt sie mit der Eleganz und dem Selbstbewusstsein, als wäre sie der Star, der sie einmal gewesen war.

Doch noch viel mehr beeindruckte sie die Liebe zwischen ihr und Robert, der einst ihr heimlicher Geliebter gewesen war und nun seit vielen Jahrzehnte ihr Ehemann. So oft sie ihn vergaß, so oft erkannte sie erneut, wer er war und zeigte sich frisch verliebt und unbekümmert. Und Robert verzieh ihr jedes Mal und sah sie voll Ehrfurcht, Lust und Liebe an, wie vor sechzig Jahren alle Männer auf die attraktive Schauspielerin Josephine Silber geschaut hatten.