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Der goldene Herbst

Dieser Herbst war golden. Er strahlte in einem Licht, das es nur zu dieser Jahreszeit geben kann. Wenn du jetzt ganz tief einatmest, kannst du ihn vielleicht sogar noch riechen. Lange ist es nicht her. Ein bisschen nach nasser Erde roch er damals, nach Kürbis, ein wenig Staub und eine herbe Süße lag auch darin, vielleicht von überreifem Obst. Das war es! Riechst du die Äpfel? Sie dufteten köstlich in diesem Herbst.

Die Luft war erfüllt vom Rascheln der Blätter, die vorsichtig zu Boden tanzten. Immer miteinander, damit sie schöne Geräusche erklingen lassen konnten. Alleine ist das viel zu schwer.

Du magst mir erzählen, dass der Herbst immer so ist. Doch das stimmt nicht, für mich nicht. Normalerweise waren meine Herbste grau. Sie klangen nach dem eisigen Pfeifen des Windes. Sie rochen nach verfaultem Holz und abgestandenem Wasser. Aber nicht dieses Jahr. Dieser Herbst war golden. Zwischen Weinstöcken mit prallen, grünen Trauben war ich plötzlich nie mehr alleine gewesen.

Die Sonne stand schon tief, doch kitzelte sie mich immerzu, als wolle sie mich daran erinnern, dass es etwas Besonderes war, weil sie sonst nie so fröhlich war oder so oft ihr Gesicht dem Herbst entgegenstreckte.

Den Hügel hinunter lächelte ich die Weingärten an. Meine linke Hand hielt ich an die Stirn, damit ich die Ferne erspähen konnte. Es war prickelndes Glück, das sich von meinem Magen aus bis in die Zehenspitzen ausbreitete. Meine recht Hand ließt du vorerst nicht los. Erst als wir den Wein gereicht bekamen.

„Auf euch!“ Die Gläser klirrten im Kreis. Wie oft erklingen sie, wenn bei zwölf Personen jeder mit jedem anstößt? Ich wusste es damals nicht und heute auch noch nicht.

Wir sahen uns in die Augen, als unsere beiden Gläser aneinanderstießen. „Auf uns“, flüsterten wir uns zu. Der Weißwein war süß und prickelte auf der Zunge – genauso wie das Leben über meine Arme hüpfte und alles kribbelnd hinterließ. Vielleicht hätte Sekt besser gepasst, um zu feiern, aber so war es schöner. Zwischen Weinstöcken, Wein verkosten.

Mit den Gläsern in der Hand spazierten wir den Hügel hinab. Die Gäste schnatterten und plauderten ununterbrochen. Aber ich hörte sie nicht. Ich sah sie auch kaum. Eigentlich hätten wir sie nicht einladen müssen und doch fühlten wir uns so vollkommener. Kann man Vollkommenheit steigern? Wenn ja, dann nur in diesem Moment. Dein Gesicht in der Herbstsonne, dein Lächeln über dem wohlriechenden Wein, deine leuchtenden Augen – Es war ein perfekter Augenblick.

Die Sonne würde bald hinter dem Horizont verschwinden. Am Ende des Weingartens wartete ein kleines Lokal auf unsere Ankunft. Doch der Moment war noch nicht vorbei. Noch durfte ich den Moment einatmen, einsaugen, genießen.

Der goldene Glanz gab das perfekte Licht für Fotos, doch ich hatte bewusst meine Kamera zu Hause gelassen. Heute waren meine Freunde an der Reihe. Sie sollten diese schönen Momente für immer festhalten. Dich und mich. Den Beginn unserer Zukunft.

Weißt du noch? Es roch nach nasser Erde, nach frischem Wein und überreifen Äpfeln. Dieser Herbst war golden. An diesem Tag, an allen Tagen davor und danach.

Du hast ihn für mich gold eingefärbt, zum Duften und zum Erklingen gebracht. Du hast mein Leben zu einem einzigen, langen, goldenen Herbsttag gemacht.