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In der Wüste leben die Sterne

In der Wüste leben die Sterne. Du legst dich in den kalten Sand und leckst Sternenstaub von deinen Lippen, bevor du ihn mit Wasser fortspülst. Es schmeckt nach Dreck. Sand ist nur Dreck, wird dir bewusst und du spürst deutlich, wie sehr du diesen Dreck liebst.
Du holst eine Decke hervor und gräbst die Ecken ein, damit der Wind sie dir nicht nehmen kann.

Der goldene Herbst

Dieser Herbst war golden. Er strahlte in einem Licht, das es nur zu dieser Jahreszeit geben kann. Wenn du jetzt ganz tief einatmest, kannst du ihn vielleicht sogar noch riechen. Lange ist es nicht her. Ein bisschen nach nasser Erde roch er damals, nach Kürbis, ein wenig Staub und eine herbe Süße lag auch darin, vielleicht von überreifem Obst. Das war es! Riechst du die Äpfel? Sie dufteten köstlich in diesem Herbst.

Der Kinobesuch der alten Dame

Ich war – zu meiner Zeit – ein großer Filmstar gewesen. Wie mich die Männer angesehen hatten, voller Ehrfurcht und Lust und die Frauen! Solcher Neid. Jede wollte so sein wie ich, so jung, so attraktiv, so erfolgreich. Wenn ich mit meinen vollen Lippen und den kurzen Locken über die Kinoleinwand tanzte, waren die Kritiker begeistert und wenn ich über den roten Teppich zur Premiere schritt, gab es ein Feuerwerk an Blitzlichtern. Jeder wollte das beste Foto von mir schießen.

Wunderheilung

„Irgendwie sind wir doch alle ein bisschen verrückt.“ Mit diesen Worten und einem freundlichen Lächeln schloss Dr. Sabine Berg hinter ihrem fünften und letzten Patienten an diesem Tag die Tür. Seit zehn Jahren, auf den Tag gemau, arbeitete sie mit Menschen wie ihm, Menschen, die dachten, sie seien besonders, obwohl sie nicht mehr oder weniger besonders waren als alle anderen Menschen auf der Welt.

Das einsame Fahrrad

Am Bahnhof steht ein Fahrrad. Es ist weiß. Jemand hat es hier abgestellt, abgesperrt und stehen gelassen. Dieses Fahrrad steht seit vielen Jahren am Bahnhof. Es muss einsam sein. Vielleicht wartet es wie ein treuer Hund, dass eines Tages sein Besitzer kommt und es holt.

Die Bleistiftschnüfflerin

Sie roch gerne an Bleistiften. Bevorzugt an solchen mit Stärke 3B. Gegen härtere Stifte war sie abgehärtet. Nur gelegentlich griff sie zur beliebten Sorte HB, denn bei weicheren kam sie immer in Versuchung, die Spitze anzusetzen, oberhalb der Lippen, dort wo die Nasenlöcher ihren Blick auf die Welt richteten. Und dann hinterblieben graue Mahnmale, die zeigten, was sie getan hatte.

Ein Schluck Tee

Ich hatte in meinem Leben nie an Scheidung gedacht. An Mord, ja, aber bestimmt niemals an Scheidung. Der Grund dafür war einfach: Eine Scheidung musste man planen, ein Mord, so dachte ich, passierte nur in der Hitze des Gefechts, im Augenblick größten Streits und der Gedanke daran war vergessen, sobald man sich versöhnlich in die Arme fiel. Wie falsch ich lag! Mein Mann musste den Mord an mir schon lange geplant haben – und heute war es so weit.

Die letzte Mondfinsternis

Wir liegen im Gras und sehen den Mond. Wir haben keine Kamera dabei, kein Teleskop. Unsere Mobiltelefone liegen im Haus, irgendwo, abgeschaltet. Wir haben keine Musik in den Ohren, keinen Bildschirm vor unseren Augen.

Das alte Fotoalbum

Draußen fiel der erste Schnee des Jahres. Dicke, weiße Flocken tanzten vor ihrem Fenster und bedeckten ihre Blumen, ihren Vorgarten und ihre ganze Welt. Mit duftendem Orangentee ließ sie sich in ihrem Schaukelstuhl nieder und betrachtete das Treiben.