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Die letzte Mondfinsternis

Wir liegen im Gras und sehen den Mond. Wir haben keine Kamera dabei, kein Teleskop. Unsere Mobiltelefone liegen im Haus, irgendwo, abgeschaltet. Wir haben keine Musik in den Ohren, keinen Bildschirm vor unseren Augen.

Wir liegen im Gras und sehen den Mond. Wir wissen, was gleich kommen wird. Wir wissen es, weil es heute Nacht sein muss. Wir wissen nicht, wann genau – wir haben auch die Uhr zu Hause gelassen.
Wir liegen im Gras unter dem Mond in unseren Schlafsäcken, warten auf die totale Mondfinsternis, auf das Rot, das die Welt verzaubern wird. Wir haben keine Kamera dabei, kein Teleskop. Unsere Mobiltelefone liegen im Haus, abgeschaltet. Wir haben keine Uhr, keine Musik, keinen Bildschirm. Wir haben uns, wir haben den Moment.
Wir wissen nicht, dass es die letzte sein wird. Aber wüssten wir es, wir würden nichts anders machen. Wir wären immer noch gefangen im Moment, ohne Kamera, ohne Teleskop. Unsere Mobiltelefone würden trotzdem im Haus liegen, abgeschaltet. Wir hätten keine Uhr dabei, keine Musik. Wüssten wir, dass es die letzte ist, wir würden genauso im Gras liegen, nebeneinander, unsere Blicke auf den Mond geheftet.

Wenn unsere Enkel einmal fragen: „Ihr habt sie doch miterlebt, oder? Die Mondfinsternis von damals? Die letzte, die man sehen konnte?“, werden wir uns denken: „Die letzte, bevor die Nacht vollständig abgeschafft wurde – bevor die Lichter jede Stadt, jedes Land, die ganze Welt in einen nie endenden Tag versetzt haben.“
Und wir werden antworten: „Ja, wir waren dabei!“
Sie werden uns fragen, warum wir keine Fotos gemacht haben, keinen Beweis.
Und wir werden erklären: „Wir hatten den Moment“.

Wir liegen im Gras und sehen den Mond, wie er langsam hinter dem Schatten der Erde verschwindet, sich wunderschön einfärbt in ein magisches Rot. Wir haben keine Kamera dabei, um ihn festzuhalten, kein Teleskop, um ihn genauer zu sehen. Unsere Mobiltelefone liegen im Haus, irgendwo, abgeschaltet. Wir haben keine Uhr, keine Musik, keinen Bildschirm. Wir haben einander, wir haben den Moment.

Wenn die Zukunft einmal da ist, werden wir zurückdenken an diesen einen Augenblick. Wir werden das Gras spüren unter unseren Körpern durch die dicken Schlafsäcke hindurch. Wir werden wissen, wie unsere Wangen kälter geworden waren im kühlen Wind der Nacht, wie unsere Stimmen leiser geworden waren mit der kommenden Dunkelheit.
Wir werden uns an die Schwärze erinnern, eine Finsternis ohne Straßenlaternen, die unseren Blick trübten, eine Nacht ohne Taschenlampen, die unsere Sinne hätten verwirren können.
Wir werden auf das Licht des Mondes gewartet haben ohne Kerzen, ohne Feuer. Wenn wir einmal alt sind, werden wir die Nacht vermissen, die langsam abgeschafft wurde.

Wir liegen im Gras und sehen den Mond. Wir sehen ihm schweigend dabei zu, wie er über die Ränder des Horizonts klettert. Wir plaudern ein bisschen, als er höher wandert, sind aufgeregt, gefüllt mit Neugierde. Wir teilen diesen Moment nicht mit Facebook, Twitter, dem ganzen Internet, nicht mit der ganzen Welt. Wir teilen ihn miteinander, wie wir nebeneinander im Gras liegen, zusammen warten.

Wenn die Reporter einmal kommen, uns als „Zeitzeugen“ betiteln, von uns fordern: „Erzählt von jener Nacht, der Mondfinsternis, dieser totalen Kernschattenfinsternis, die letzte, die man gesehen hat. Berichtet von der Zeit vor der Lichtverschmutzung, berichtet von den Sternen, der Milchstraße, dem Mond, all dem, was man heute mit freiem Auge nicht mehr sieht! Wir wollen wissen, wie es war!“, werden wir lächeln, während die Erinnerungen in unserem Kopf zu spielen beginnen, unsere Sinne erneut die Feuchtigkeit spüren, die unsere Haare bedeckte, die Gemütlichkeit im Dunkeln aneinander zu kuscheln, ohne Eile, ohne Stress zu warten, gehüllt in die Dunkelheit der Nacht.
Wir werden erzählen: „Ich vermisse es. Die Nacht. Ich vermisse es, zu wissen, wann Nacht ist. Wir wünschen uns zurück, dass die Lichter wieder ausgehen, für einen Moment, für eine Stunde, eine Nacht, in jeder Nacht.“ Das werden wir sagen.

Wir liegen im Gras und sehen den Mond. Wir hüllen uns in warme Schlafsäcke, kuscheln unsere Köpfe aneinander. Wir plaudern ausgelassen, werden leiser mit dem schwindenden Licht, werden lauter mit dem aufgehenden Mond. Wir haben nichts anderes dabei, außer einander. Keine Kameras, keine Teleskope, keine Mobiltelefone. Die liegen im Haus, irgendwo, abgeschaltet. Wir liegen im Gras – kein Bildschirm vorm Gesicht – wir sehen den Mond, wie er hinter dem Schatten der Erde verschwindet. Für einen unendlichen Augenblick halten wir den Atem an, als das rote Licht den Garten bedeckt.
Wir liegen im Gras und sehen den Mond. Wir haben keine Kameras, keine Uhren, kein Teleskop, keine Musik.

Wir haben den Moment und wir zerstören ihn nicht.