Wunderheilung
„Irgendwie sind wir doch alle ein bisschen verrückt.“ Mit diesen Worten und einem freundlichen Lächeln schloss Dr. Sabine Berg hinter ihrem fünften und letzten Patienten an diesem Tag die Tür. Seit zehn Jahren, auf den Tag gemau, arbeitete sie mit Menschen wie ihm, Menschen, die dachten, sie seien besonders, obwohl sie nicht mehr oder weniger besonders waren als alle anderen Menschen auf der Welt.
Seufzend ließ sich die schlanke Frau auf ihrem Schreibtischsessel nieder und nahm ihre Brille ab, um sie zu polieren. Noch einmal durchblätterte sie die Notizen zu ihrem Patienten Paul Schmidt: Sechsunddreißig Jahre. Verheiratet. Zwei Kinder. Vollzeitjob. Glaubt er könne andere Menschen mit seinen Gedanken steuern. Hält sich für auserwählt und besonders.
Dr. Berg wischte sich über ihre mit Falten durchzogene Stirn. Sonst durchschaute sie alle ihre Patienten innerhalb der ersten Einheiten, nicht aber ihn.
In all den zehn Jahren hatte die Therapeutin zwei Supermans, drei Telekinesen und einen Mann mit imaginären Flügeln behandelt. Es hatte sich schnell dasselbe Schema, derselbe Auslöser gezeigt, aber bei Paul Schmidt war es irgendwie anders. Seine Eltern waren liebevoll gewesen. Er war Einzelkind. Seine Mutter hatte bis zu seinem sechzehnten Geburtstag jeden Tag als Hausfrau und Mutter verbracht. Auch von seiner Frau und seinen beiden Kindern schien er geliebt und geschätzt zu werden.
Dr. Berg verstand es nicht. Alle ihre Patienten, egal ob sie vorübergehend bei ihr waren oder seit Jahren mehrmals die Woche kamen, waren im Grunde gleich. Kaum Aufmerksamkeit als Kinder. In der Schule Außenseiter. Im Liebesleben schlechte Erfahrungen gemacht. Klassischer Aufmerksamkeits-Komplex, dann ein Schlüssel-Erlebnis. Bei dem Mann mit Flügeln war es ein Selbstmordversuch gewesen. Sprung aus dem fünften Stock. Mit blauen Flecken wie durch ein Wunder überlebt und schon dachte er, er hätte Flügel.
Die Notizen gaben nicht viel her. Die Gespräche mit Herrn Schmidt waren immer gleich verlaufen:
„Wie geht es Ihnen denn heute?“
„Sehr gut, sehr gut, ausgezeichnet.“
„Wie kommt es denn dazu?“
„Ach, Sie wissen schon. Gestern habe ich mit meinem Chef gesprochen. Wie ich wollte – Gehaltserhöhung. Ich verstehe einfach nicht, wie sie noch immer an mir zweifeln können?“
„Aber, Herr Schmidt. Ich zweifle nicht, ich frage mich nur – wieso Sie diese Gabe erhalten haben.“
Dr. Berg war geduldig. Noch nie hatte sie einem Patienten zu spüren gegeben, dass sie alle komplett durchgeknallt waren. Immer wieder betonte sie, wie verrückt nicht alle Menschen waren. Das war das einzig ehrliche, was sie je zu einem ihrer Klienten gesagt hatte.
Und Herr Schmidt war ein ganz schwieriger Fall. Jedes Mal, wenn er kam, erfand er eine Geschichte, wie die mit der Gehaltserhöhung, um zu beweisen, dass seine eingebildete Gabe real war.
Auf ihre Frage, wie er denn denke zu dieser Fähigkeit gekommen zu sein, antwortete er auch immer gleich: „Frau Doktor ... Ich sagte es Ihnen schon. Ich wurde so geboren. Sie fragen mich immer wieder nach Eltern und Kindheit. Wissen Sie noch unsere Hypnose-Einheit? Das war ein Spaß ... Aber es ist nun einmal so, mein Leben ist wie ein wahr gewordener Traum. Diese Gabe wurde mir in die Wiege gelegt.“
Paul Schmidt lächelte ununterbrochen. Er war mit seinem Leben überglücklich und nur aus einem Grund in die Therapie gegangen. Nachdem er nach sieben Jahren Ehe seiner Frau von seiner Fähigkeit erzählt hatte, hatte sie darauf bestanden. Natürlich hätte er sie alleine mit seinen Gedanken dazu bringen können, ihm alles zu glauben, aber so war er nun einmal nicht. Er nutzte seine Gabe nur für Kleinigkeiten aus. Gehaltserhöhungen. Urlaub. Vielleicht ab und zu in der U-Bahn, um andere Leute zum Stolpern zu bringen. Das war ein Spaß.
Für Dr. Berg war dieser Patient eine Herausforderung. Noch hatte sie auch die härteste Nuss knacken können und in ihr Innerstes geblickt. Es waren ja doch immer wieder dieselben Geschichten.
Den ganzen Abend – ihrem Jubiläums-Arbeitstag – ging sie ihre Notizen durch. Stunde um Stunde versuchte sie, Herrn Schmidt zu verstehen. Er kam nun seit zwei Jahren. Es war Zeit ihn zu diagnostizieren und eine gezielte Behandlung zu starten.
Gegen Mitternacht hellte sich ihre Miene auf. Sie musste am nächsten Morgen sofort mit Frau Schmidt sprechen. Therapeutin Dr. Berg war sich plötzlich wie aus heiterem Himmel sicher: Sie hatte den Mann bereits geheilt.
„Guten Morgen, spreche ich mit Frau Schmidt?“
„Ja, ganz Recht, am Apparat!“
„Frau Schmidt, ich habe gute Neuigkeiten. Vielleicht hat es Ihnen ihr Mann schon mitgeteilt. Er ist geheilt und es gibt für ihn keinen Grund mehr, mich aufzusuchen!“
„Sind Sie sich da ganz sicher?“
„Aber ja doch. Es war einfach zu viel Stress. Das steigt schon zu Kopf, aber mit genügend Schlaf und viel erholsamer Zeit mit seiner Familie wird sich das alles endgültig auflösen. Ich habe auch von einer Gehaltserhöhung gehört. Da wird er sich doch jetzt ein bisschen weniger auf die Arbeit konzentrieren müssen!“
„Ja, ja, das stimmt. Wenn Sie das sagen. Ich wusste ja, dass Sie die beste auf ihrem Gebiet sind! Vielen, vielen Dank, Doktor Berg!“
Das Gespräch war beendet. Dr. Berg hatte ein seltsam mulmiges Gefühl im Magen. Nichts in ihren Notizen hatte auf eine Heilung hingedeutet.
Sie zuckte mit den Schultern. So interessant der Fall auch gewesen war, er war jetzt vorüber. Es blieb also kein Grund, sich weiter Gedanken zu machen.
Mit seiner überglücklichen Frau in den Armen, lachte Herr Schmidt sich ins Fäustchen. Ohne seine Gabe auf seine Frau losgelassen zu haben, war wieder alles gut. Dieses Mal würde er seinen Mund bestimmt nicht mehr aufmachen. Das war ein Spaß gewesen.